Wenn die Wahlen in Europa ein Wettbewerb der politischen Ideen des Wahlkampfes und nicht der digitalen Strategien bleiben sollen, dürfen die systemischen Herausforderungen an die Demokratie als brennende Aktualität zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht übersehen werden.
Die digitale Revolution erschüttert nicht nur den Handel, sondern bringt auch die Politik durcheinander. Neben Marketinginstrumenten, die inzwischen auch zur Gestaltung unserer Demokratien benutzt werden, übernimmt die Politik strategische Ansätze der Datenerfassung und -verwendung, die denen großer Konzerne ähneln: Die Reaktionen der Wählerschaft auf Online-Kampagnen wird getestet, Wählerdaten werden mit mobilen Apps erfasst, durch Online-Tracking-Technologien werden Interessenprofile von Wahlberechtigten erstellt, durch die Auswertung öffentlicher Tweets wird auf ihre politischen Einstellungen geschlossen, aus ihren Standortdaten werden politische Schlüsse gezogen, mit Suchmaschinenanzeigen und personalisierter Werbung im Internet-TV werden ihre ersten Eindrücke gesteuert, mittels Automatisierungstechniken werden ihnen Massen-SMS geschickt und vieles andere mehr. Es sind größtenteils profitorientierte Unternehmen, die politische Kampagnen bei dieser Arbeit unterstützen – die „Beeinflussungsindustrie“, wie sie von unserem Projekt zu Daten und Politik bezeichnet wird. Im Vergleich zu den sehr spezifischen Taktiken der personalisierten politischen Kommunikation verbreitet diese Industrie darüber hinaus auch sehr viel unverhohlener Desinformationen.
Auch wenn sich diese „Datafizierung“ der Politik in der Europäischen Union noch nicht so umfassend entfaltet hat wie in den USA, so sind doch klare Zeichen erkennbar, dass die Politik quer durch alle EU-Länder in diese Richtung tendiert. Im Jahr 2016 wurde für den Wahlkampf des damaligen französischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy eine App entwickelt, die Sarkozys Anhängerschaft erfasste, um eine Wahlwerbung an der Haustür betreiben zu können, bei der die Wähler und Wählerinnen (von ihnen fremden Personen) mit Namen und auf ihre politischen Präferenzen angesprochen wurden. In Italien erhielten per Mikrotargeting ermittelte Wähler und Wählerinnen auf Facebook politische Werbeanzeigen, die auf ihren Standort, ihr Alter und ihre Interessen zugeschnitten waren. Im Jahr davor kam es auf dem Internet-Wähler-Portal der Fünf-Sterne-Bewegung zu Sicherheitslücken, von denen über 140.000 Wählerdaten betroffen waren – ein weiteres Beispiel dafür, dass die politische Technologie genau wie ein Großteil der digitalen Verbrauchertechnologie zu wenig für Sicherheit ausgibt. Vor den deutschen Bundestagswahlen von 2017 bezahlten CDU und FDP der Deutschen Post „Zehntausende von Euro“ für Daten von Haushalten, vermutlich um ihre Wahlwerbung effektiver anpassen zu können, wobei beide Parteien behaupten, damit nicht gegen die deutschen Datenschutzgesetze verstoßen zu haben. Kurz gesagt, bewegen sich die Wahlen in Europa jetzt auf einen Wettbewerb digitaler Strategien zu und entfernen sich damit weiter vom demokratischen Ideal eines Wettstreits politischer Ideen.
Your Data, Our Democracy - Tactical Tech
Direkt auf Vimeo ansehenAnhand einer Fallstudie aus den Niederlanden veranschaulicht diese Animation, wie persönliche Daten in der Europäischen Union zu politischem Kapital werden. Mehr Informationen darüber, wie man seine persönlichen Daten bei politischen Online-Aktivitäten schützen kann, finden sich im Voter Guide von Tactical Tech.
Es ist schwierig, der Beeinflussungsindustrie entgegenzuwirken. Zum einen sind die zum Einsatz kommenden Technologien manchmal kaum im Einzelnen zu erkennen, weshalb sie nur schwerlich in ausreichendem Maß reguliert werden können, und zum anderen hat die Beeinflussung offensichtlich eher langfristige Auswirkungen. Zwar zielten russische Quellen während der Wahlen zum Europaparlament von 2019 mit der Verbreitung von Desinformationen auf eine „Senkung der Wahlbeteiligung sowie Einflussnahme auf den Wählerwillen“ ab, gab es den Angaben der damaligen EU-Justizkommissarin Věra Jourová zufolge keinen „Big-Bang-Moment“ wie in den USA nach den Enthüllungen über die Aktivitäten von Cambridge Analytica. Dass Vorfälle dieser Art keine „Big-Bang-Momente“ sind, trägt dazu bei, dass sie in den Medien nicht genug Aufmerksamkeit erhalten. Das birgt die Gefahr, dass banalere Formen der Wahlbeeinflussung nicht politisch thematisiert werden und unvermindert weitergehen, womit das Auskundschaften und die Manipulation der Wahlbevölkerung schon bald zur Normalität werden könnten. Tatsächlich sind Skandale wie der um Cambridge Analytica die Ausnahme, vor allem angesichts der Tatsache, dass es weltweit Hunderte anderer Unternehmen gibt, die auf undurchsichtige Art und Weise die Daten von Wahlberechtigten für politische Zwecke nutzen.
In den seltenen Fällen, in denen diese Vorfälle als beachtenswert gelten, konzentriert sich die Berichterstattung oft auf die Besonderheiten des einzelnen Vorfalls und nicht auf die dahintersteckende Infrastruktur, die Vorfälle dieser Art erst ermöglicht. Das beschrieb auch Edward Snowden in seinem Buch Permanent Record – Meine Geschichte: „Mitte 2012 versuchte ich herauszubekommen, wie die Massenüberwachung funktionierte. Nahezu allen Journalisten, die später über die Enthüllungen berichteten, ging es um die Ziele der Überwachung […] Das heißt, sie interessierten sich mehr für den Inhalt der Überwachungsberichte als für das System, durch das sie entstanden waren.“ Die Beeinflussungsindustrie sammelt und analysiert – wie die von Snowden genannte Überwachungsinfrastruktur – wahllos Daten mit der Begründung, dass alle Daten politische Einblicke enthalten könnten: Wie viele Hunde es in einem Haushalt gibt, was die Muttersprache einer Person ist und ob sich diese Person lieber Dokumentarfilme oder Komödien ansieht.
Zudem ist die Beeinflussungsindustrie äußerst gewinnbringend. Da die Wahlbevölkerung in aller Welt – vor allem während der Pandemie – ihre politische Betätigung ins Internet verlegt und da Tech-Plattformen von politischer Diskussion, Wut und sogar Desinformation profitieren, sind politische Kampagnen zu einem 365 Tage im Jahr stattfindenden Geschäft geworden. Das trägt zu einer weiteren Polarisierung bei, kreiert mehr Daten, die von den Unternehmen abgeschöpft werden können, was letztlich wiederum die Geschäftsmöglichkeiten erhöht. Spricht man sich für eine Einschränkung von Geschäftstätigkeiten dieser Art aus, riskiert man den Vorwurf, Fortschritt und Produktivität abwürgen zu wollen, insbesondere in einer Zeit, in der technologische Innovationen nicht auf den Privatsektor beschränkt sind, sondern auch im politischen Bereich stattfinden, wo am meisten auf dem Spiel steht.
Und schließlich wird ein Vorgehen gegen die Beeinflussungsindustrie durch die Hürden bei der Verfolgung des weltweiten Datenhandels erschwert. In einer Ära, in der die persönlichen Daten der Wahlbevölkerung ein genauso wertvolles politisches Kapital wie Geld selbst sind, ist es schwierig, aber notwendig, digitale Kompetenz, Dienste und sozusagen gespendete Daten aus in- oder ausländischen Quellen zu identifizieren und Fragen zu Rechtmäßigkeit und potenziellen Interessenskonflikten zu stellen. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass Händler von politischen Daten und Wahlkampffirmen in aller Welt ideologische Bündnisse geschlossen und Geschäftsbeziehungen aufgebaut haben. Für die Bundestagswahlen von 2017 heuerte die AFD beispielsweise Harris Media an, eine Wahlkampffirma aus Texas, die sowohl für Trumps Wahlkampf als auch für die britische Brexit-Partei UKIP gearbeitet hatte. Es wird auch spekuliert, dass die Technologie-Unternehmen, die einem Kandidierenden in welchem Umfang auch immer zum Wahlerfolg verhelfen, anschließend besser aufgestellt sind, ihre politischen Nutznießer davon zu überzeugen, sie – wenn überhaupt – nur auf eine für das Unternehmen vorteilhafte Weise zu regulieren. Darüber hinaus verändert die Erhebung von Daten auch die Dynamik von Machterhalt und Machtergreifung. Beispielsweise nutzte die vor den malaysischen Wahlen von 2018 amtierende Regierungspartei ihren Zugang zur staatlichen Datenbank über Armut, um Haushalte, die Sozialhilfe erhalten, daran zu erinnern, ihre Stimme abzugeben. In den USA hat die zentralisierte und konsolidierte Datenverarbeitung der Republikanischen Partei Trumps Wahlkampfteam dazu gebracht, die gesamte Datenbank der Partei unter ihre Kontrolle zu bringen.
Der von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgelegte Europäische Aktionsplan für Demokratie soll eine Antwort auf die Gefahren für die europäische Demokratie sein. Zu diesen Gefahren zählen unter anderem die Aushöhlung demokratischer Standards innerhalb der EU, ausländische Einflüsse und die Zunahme antidemokratischer Gesinnungen. Diese Gefahren sind mitsamt ihren schädlichen Auswirkungen bereits eingetreten und sichtbar. In diesem Kontext sind es gerade die unauffälligsten Gefahren – wie die Ausschlachtung persönlicher Daten der Wahlbevölkerung für den politischen Nutzen und die Normalisierung der Wählerüberwachung –, deren Folgen leicht übersehen werden und deren Wert antidemokratische Motive stärken kann, was langfristig den größten Einfluss auf die Widerstandsfähigkeit europäischen Demokratien haben kann.